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Der letzte Umzug

„…und dann verlasse ich meine Zuhause und schaue nicht mehr rechts und links und schon gar nicht mehr zurück.“ Ich musste schlucken. So sollte es also zu Ende gehen? Ein Leben, vierzig Jahre in der selben Wohnung, Kinder groß gezogen, Menschen ein und ausziehen gesehen, mit manchen so etwas wie Freundschaft geschlossen, manche etwas kritisch beäugt, weil sie so gar nicht dem eigenen Lebensstil entsprochen hatten.

Und doch war immer so etwas wie Leben in der Bude gewesen. Als ich vor sechs Jahren hier eingezogen bin, allein, mit zwei kleinen Kindern, wollte ich eigentlich nichts mit den restlichen Bewohnern dieses Hauses zu tun haben. Zu sehr quälten mich meine eigenen Dämonen und die Angst, wie es denn jetzt wohl weitergehen würde.

Über mir eine ältere Dame, die ständig etwas zu meckern hatte. Entweder die Kinder waren zu laut oder ich hatte mal wieder vergessen, den Hausflur zu wischen. Agathe fand immer einen Grund, irgendetwas an mir zu bemängeln. Über die Jahre wurde es besser, Agathe immer schwerhöriger, was sie allerdings als meinen Erziehungserfolg feierte. „Frau Möller, Ihre Kinder höre ich ja überhaupt nicht mehr. Das haben Sie aber gut hinbekommen.“ Sagte sie, während mein Sohn im Hintergrund Schlagzeug spielte und meine Tochter lauthals „We will rock you“ brüllte.

Nach einem Nachbarschaftsgrillen“ im Gemeinschaftsgarten, drei Bierchen und dem Du-Angebot war das Eis dann endgültig gebrochen. Ich erfuhr viel von ihrem Leben, ihren drei Kindern und der einen Tochter, die sich aus unerfindlichen Gründen von ihrer Mutter losgesagt hatte. Den Mann, den sie zwischenzeitlich einmal verlassen hatte, weil er sich wie ein totaler Idiot benommen hatte. Man fand jedoch wieder zusammen, denn „Weißt du Sunny, drei Kinder, das verbindet doch irgendwie.“ Mich haben zwei Kinder nicht dazu gebracht, zu meinem Idioten zurückzukehren. „Das ist schon in Ordnung, hast ja jetzt einen ganz stattlichen Ersatz gefunden.“ Ich muss heute noch darüber lachen. Stattlich, ein Begriff, der heute viel zu selten im Gebrauch ist.

So war das mit Agathe. Sie wurde älter und so langsam machte sich auch bei ihr das Alter bemerkbar. Sie wurde schwächer, plötzlich stand ein Rollator im Hausflur, eine Pflegerin kam mehrmals die Woche, die sie bei den alltäglichen Dingen unterstützte. Trotz alledem war sie noch voll dabei und mittlerweile hatte ich sie richtig lieb gewonnen.

Als ich Donnerstag von der Arbeit nach Hause kam, hing ein Zettel am schwarzen Brett des Hausflurs.

Liebe Nachbarn,

ich ziehe nächste Woche in ein Altersheim. Ich habe die Zeit mit Ihnen und
euch hier sehr genossen. Ob es bei einem Schnäpschen im Garten war oder ein
kurzer Klönschnack im Hausflur. Es war für mich eine sehr schöne Zeit. Ich
werde das alles sehr vermissen.

Eure/Ihre Agathe Heinze

Ich konnte es nicht fassen. Es lief doch alles ganz gut und unsere tolle Hausgemeinschaft sorgte dafür, dass immer jemand zur Stelle war, wenn Agathe Hilfe brauchte. Ich schnappte mir eine Flasche Prosecco und klingelte bei Agathe. Als sie die Tür öffnete, sah ich ihre verweinten Augen. Hilflos, wie ich manchmal in solchen Situationen bin, nahm ich sie einfach in den Arm. „Agathe, was machst du denn nur für Sachen?“ Sie fing wieder an zu weinen.

„Meine Tochter sagte, das ist das Beste für mich. Und dann bin ich ja auch in ihrer Nähe.“ Sie sah nicht sehr überzeugt aus. „Kannst du denn deine Sachen mitnehmen? Vielleicht dein Bett oder deinen Lieblingssessel?“ Sie wischte sich die Tränen mit einem Stofftaschentuch ab, auf dem ihre Initialen eingestickt waren. „Ich kann mein Kopfkissen mitnehmen, alles andere ist schon da.“ Ich stellte mir vor wie ein alter Mensch alles zurücklassen musste, was ihm lieb und teuer war. Sicher konnte sie ein paar Kleinigkeiten und Erinnerungen aus ihrem Leben mit in dieses Heim nehmen. Doch sie würde mit über achtzig Jahren ihr Leben verlassen müssen. Die Vorstellung, dass es mir später einmal ebenso ergehen könnte, wollte ich nicht an mich heran lassen. „Und wann geht es los?“

„Übermorgen. Ich habe nicht so schnell mit einem freien Zimmer gerechnet. Ich war Platz sieben auf der Warteliste und nur wenn einer stirbt, wird ein Platz frei. Da sind wohl ziemlich viele, ziemlich schnell gestorben.“ Sie fing wieder an zu weinen. „Platz sieben Sunny, ich war doch erst Platz sieben!“

Ich fühlte mich wie in einem Horrorfilm. Wir tranken ein Glas Prosecco. Dann drückte sie meine Hand. „Ich werde mich nicht einmal umdrehen. Weißt du, was das Schlimmste ist? Von da werde ich nirgendwo mehr hinziehen. Das ist die letzte Station.“ Dann begann sie wieder zu weinen.

Diese Sache hat mich zutiefst erschüttert und sehr bewegt. In Würde zu altern und schwächer zu werden, hat in unserer Gesellschaft keinen Platz mehr. Je nach finanzieller Situation, landen alte Menschen meist in besseren Aufbewahrungslagern, möglichst weit weg von der jungen, leistungs- und lebensfähigen Gesellschaft. Es muss doch einen Weg geben, bei dem beide Lebensabschnitte zusammen koexistieren können oder sogar voneinander profitieren. Man sollte nicht vergessen, dass wir auch irgendwann einmal diesen Lebensabschnitt erreichen werden.

© Sunny Möller

21 Gedanken zu „Der letzte Umzug“

  1. Was für ein berührender Artikel. Diese Situation kenne ich auch, zwar nicht persönlich, aber es betrifft nun auch einige Eltern von Freunden. Würdest Du ihn mir als Gastautorin auf sl4lifestyle zur Verfügung stellen?
    Einen schönen Tag.
    LG
    Sabine

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  2. es ist erschütternd, wenn es passiert, und irgendwo passiert es jeden tag. allerdings ist es auch schwer zu verhindern in einer gesellschaft wie der unseren. und auch kinder zu haben, schützt dich nicht. wie man das ändern kann weiss ich leider auch nicht. alte menschen können doch so bereichernd sein, aber das nimmt niemand zur kenntnis. leider.

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  3. Ich erlebe das jeden Tag, jede Woche in meiner Nachbarschaft. Alte Damen sterben oder gehen in ein Heim, ihre Männer gingen lange vor Ihnen. Ich kümmere mich ein wenig, richte Kabel-TV nach Analogabschaltung oder wenn das Telefon streikt, bin zur Stelle, wenn ein paar Büsche im Garten gestutzt werden müssen oder auch nur zum Kaffee trinken am Nachmittag. Die Kinder sind lange aus dem Haus, wohnen weit weg oder kümmern sich wenig bis gar nicht. Generation nehmen, Generation memyseldandi.

    Ich habe auch lange in Eimsbüttel gewohnt. Jeder kannte jeden und es gab eine tolle Nachbarschaft. Auffälligerweise ist dem heute nicht mehr so. Jeder igelt sich ein, es wird kaum gegrüßt. Diese Generation ist nicht nur Single, sie ist auch noch in anderer Richtung einsam. Und im Herzen arm. Ganz arm.

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    1. Das mache ich gerne. Obwohl ich dich für kommunikativer und offener halte. Und du erlebst bestimmt auch, wenn man wirklich erst so spät in ein Heim kommt, ist es viel schwieriger, nochmal neu anzufangen. Danke dir Katrin. Ich werde ihr mal deinen Blog zeigen.❤️

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    2. Ich lese ja oft in deinem Blog Katrin und ich finde es toll, wie du in dem Heim dort lebst. Besonders auch, was du alles machst, um anderen auch zu helfen. Hut ab. Du hast es dort auch gut getroffen, glaube ich. Und dich dazu auch gut arrangiert. In den meisten Heimen gibt es ein großes Angebot, aber für manche Menschen wird es dort auch schwieriger bzw. manche bauen dort auch schneller ab. Das ist so unterschiedlich, dass man das gar nicht verallgemeinern kann. Aber das weißt du ja selbst.
      Ich sehe das hier, bei meiner Schwiegermutter, die ja nun fast drei Jahre bei uns lebt, wenn wir sie mal in die Kurzzeitpflege geben, weil wir sie nicht anders unterbringen und selbst für kurze Zeit nicht versorgen können. Alle sind dort sehr bemüht und freundlich und auch nett zu den alten Menschen. Das Angebot für sie ist prima und umfangreich. Ich merke aber auch immer wieder, dass sie nach solchem Aufenthalt wieder ein bißchen mehr abgebaut hat. Das kann aber natürlich auch allgemein an ihrer Krankheit liegen, ist immer schwer auseinanderzuhalten. Für an Demenz oder Alzheimer erkrankte Menschen bleibt meist nicht genügend Zeit, das ist leider in der Praxis so in den Heimen. Die Mitarbeiter müssen aber auch ganz schön viel stemmen.

      Ich bin froh, dass wir es so einrichten konnten, sie zu uns zu holen. Wobei ich nicht weiß, bis zu welchen Punkt ich das machen kann.
      Viele sind auch wieder gut in einem Altenheim aufgehoben und haben so viel mehr Kontakte und Beschäftigungen. Leider geht es ja nicht in jeder Familie, dass man die Pflege übernehmen kann.
      Es gibt für alles ein Für und ein Wider.
      Ich finde es toll, dass du Menschen Mut machst, wie jetzt hier, dass ein Altersheim auch ein „Segen“ sein kann.

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      1. Danke. Wir haben etwas Unterstützung durch Enkelsohn und Enkeltochter, wo sie schon mal bleiben kann. Zwar ist das nicht so oft, aber immerhin. Dafür beim Enkelsohn auch schon mal über ein ganzes Wochenende.

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  4. Berührt mich sehr!
    Es ist schrecklich mitzuerleben, wie mit alten Menschen umgegangen wird. Aber auch, wie eigene Kinder die Eltern abschieben….habe es selber hier in meiner Nachbarschaft hautnah erlebt…

    Danke für deinen Beitrag!!

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    1. Vielen Dank für den Kommentar. ❤ Ich weiß ja, dass es aufgrund von Entfernungen und Arbeit nicht möglich ist, sich um die Eltern zu kümmern. Doch ich denke, es kann und muss alternative Möglichkeiten geben, damit Menschen würdevoll altern können. Ist doch schon ätzend genug, wenn man selbst irgendwann merkt, dass das Alter so langsam seine Spuren hinterlässt. Doch wie wertvoll und wichtig die Erfahrungen der "Alten" sind, sollte man mal zum Thema machen!

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      1. Es gibt ganz tolle Möglichkeiten! Es gibt eine 24 Stunden Pflege. Habe ich hier auch bei zwei Nachbarn “ installiert“ und es läuft/ lief fantastisch. Zudem ist es noch günstiger, als die hohen Heimkosten zu bezahlen.

        Es sind dann aber ebenoft trotzdem die Kinder, die sich mit dem Thema Pflege nicht mehr beschäftigen wollen, oder, die „was von ihrem eigenen Leben und auch dem Geld der Eltern haben wollen“ . Genauso wurde es mir von einer Tochter mitgeteilt…da ist man/ bin ich sprachlos.. Ich habe viel Schreckliches hier in der Nachbarschaft erlebt.

        Wenn dann der alte Mensch keine wohlmeinende, „starke Stimme“ an seiner Seite hat, ist er verloren. So traurig.

        ich hoffe sehr, dass Agathe zurück kommt. Vielleicht weiss ihre Familie auch nicht von der- legalen!!- Möglichkeit einer qualifizierten 24 Stunden Pflege?

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      2. Vielen dank, Vera. Agathe ist auch noch gar nicht so pflegebedürftig. Sie ist nur oft sehr einsam. Sie hat wenig Freunde und war früher ein ziemlicher „Drachen“. Doch wenn man hinter die Fassade schaut, ist sie ein ganz feiner Mensch. Ich werde mal das Gespräch mit ihren Kindern suchen. Danke für den Tipp mit der 24-Stundenpflege! ❤

        Wie schön übrigens deine Bilder sind! ❤ ❤ ❤

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